Nun auch meine Kritik:
Person und Erwartungshaltung
Ich bin studierter Informatiker, ich programmiere seit 1986.
Ich interessiere mich für verschiedene Kurse und das Lernen per Video, weil ich schnell lernen möchte. Der Vorteil von Videos ist für mich, dass ich nicht lesen und ausprobieren muss, sondern parallel dazu mitarbeiten kann. Entsprechend erwarte ich von einem Video, dass es mir knackig Informationen liefert. Ein Video soll mir Zeit sparen und schnellere Lernerfolge liefern als ein Tutorial einer Website oder ein herkömmliches Buch. Für diese Geschwindigkeitssteigerung bin ich bereit Geld zu bezahlen. So habe ich mir OpenGL beibringen lassen, was für eine Woche Training etwa 2000 Euro gekostet hat. Ich bin also potentieller Kunde. In Video-Tutorials sehe ich eine günstigere Alternative. Statt eines Dozenten, der mich in einer Schulung persönlich betreut, erwarte ich klar formulierte und strukturierte Informationen.
Lectorio
Ich möchte Python programmieren, beworben als portable Programmiersprache. Weswegen ich mich für den Kurs schonmal gegen Windows entschieden habe und stattdessen einen Mac genommen habe. Genauer gesagt ein MacBook Air 13“, was vorrangig aufgrund seiner hohen Auflösung, um Platz auf dem Bildschirm zu haben. Ein Videotutorial nimmt Platz auf dem Bildschirm ein - im Worst-Case - den kompletten Bildschirm, wenn man Text lesen muss und der Dozent für die Demonstration keine Lupe nutzt, man also das Video auf Vollbild schalten muss, um lesen zu können.
Das Manko ist logisch für ein Videotutorial. Die Lekturio-Plattform gefiel mir als Video-Plattform.
Auf dem Mac funktioniert Lecturio soweit. Bei den Quizfragen zeigt sich einmal, dass nicht alle Optionen angezeigt werden - da MacOS die Scrollbalken versteckt, muss man selbst auf die Idee kommen, dass da weitere Optionen angescrollt werden können.
Bis auf die Tatsache, dass man nicht direkt von einer Lektion zur nächsten klicken kann, macht die Website einen guten Eindruck.
Ich habe grundsätzlich Zeitmangel. Trotzdem hatte ich vor das komplette Tutorial durchzugehen habe dies jedoch nicht geschafft. Das hatte mehrere Gründe und der erste Grund fand sich sehr schnell: Aus Zeitmangel bin ich ungeduldig. Ich vermisse schmerzlichste die Möglichkeit die Videos in 1.3, 1.5 oder ggfs. auch in doppelter Geschwindigkeit sehen und hören zu können.
Das Python-Tutorial
Das Tutorial richtet sich an Einsteiger und Programmierer. Das geht nicht. Die Mindestvoraussetzungen für das Tutorial sind mir zu schwammig. Dafür habe ich in der Einführung nichtmals herausgefunden, ob das Tutorial für Python 2 oder 3 ausgelegt ist. Das erfährt man erst wenn man in die zweite Lektion kommt.
Die Installation entspricht nicht mehr der gegenwärtigen Pythonwebsite und war sehr aufwendig. Ich habe (wenig) Erfahrung in Python und ich habe einen Editor installiert und zum Testen drücke ich F5. Das kann man in 2 Minuten erkären und muss keine Halbstündige Lektion draus machen.
Als Mac-User verlangt die Website von mir, dass ich ein Shellskript ausführen muss. Wie soll ich das als Einsteiger tun? Das Niveau liegt da, dass dem Windows-User gezeigt wird, wie er eine Konsole öffnet, während ich als Mac-User verstehen muss, wie das Environment eines Computers funktioniert (PATH-Variable wird abgefragt) und ich ein Shell-Skript starte. Damit ist jeder Einsteiger ohne Windows bereits aus der Geschichte raus.
Ich kann die Windows-Erklärung als Mac-User aber auch nicht überspringen, da hier Verzeichnisse angelegt werden, die ich später auch benutzen soll. Ich muss mir den ganzen Kram also angucken, obwohl mich (fast) nix davon betrifft.
Ausführlich wird erklärt, wie man um das Problem herumkommt, dass eine Software nicht verfügbar ist. Bei mir ist sie verfügbar. Ich löse zeitaufwendig Probleme, die ich eigentlich nicht habe. Toll - interessiert mich aber nicht.
Die Installation dauert (zu) lange. Ich schaue dem Dozenten beim Download zu und langweile mich. Ich wollte Zeit sparen.
Um das installierte Python-Notebook zu nutzen, muss ich einen weiteren Browser öffnen. Es wird eng auf einem Notebook. Am Ende der Lektion switche ich zwischen zwei Browserfenster und drei Konsolen hin und her. Vorrangig dafür, um Pythonquelltexte in einen Browser einzugeben. Wozu soll das gut sein?
Alternative: Editor und F5. Dann steht aber keine coole Consulting-Firma im Logo der Website.
Die Quizfragen kommen grundsätzlich vor der Information. Ich wollte etwas lernen, nicht demonstriert bekommen, dass ich noch keine Ahnung habe. Die Quizfragen sind teilweise falsch (siehe Anhang), es werden falsche Antworten verlangt, um die Frage richtig bewertet zu bekommen. Ich schalte die Quizfragen ab.
Die Aussagen des Dozenten darf man auch nicht wörtlich nehmen:
„Wenn ich a und Groß A definiere sind das zwei vollkommen unterschiedliche Sachen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Das ist also vollkommen egal, ob das Groß A oder Klein A ist.“ Der Dozent widerspricht sich, bzw. ich vermute, er will etwas anderes sagen, führt aber nicht aus, was er meint. Als Lernender habe ich zwei Sätze mit sich wiedersprechenden Informationen. Das geht nicht.
Im Verlauf des Tutorials greift der Dozent ohne weitere Erklärung auf Begriffe zurück, die ich als Einsteiger nicht einordnen kann (Listen, Objekte). Weitere Zeit vergeht, die ich nicht nutzen kann, weil ich sie (als Anfänger) nicht verstehen kann. Ich erfahre aber, dass die Sachen später besprochen werden... warum reitet man auf Dingen rum, die ich derzeit nicht verstehen kann oder muss und erklärt mir das dann nicht auch später?
Nach dem Kapitel Datentypen bin ich ausgestiegen: Das Kapitel ist einfach komplett daneben. Es wird versucht einem Einsteiger nach 2 Stunden Dozierens (davon viel Zeit für die Installation) Numerik zu verklickern und das auch noch mathematisch falsch: „Der Unterschied zwischen 10 hoch 18 und 10 hoch -6 sind 10 hoch -20, das ist wesentlich größer als mein Epsilon“ (welches 10 hoch -16 ist und damit größer als 10^-20) In meiner Mathematik ist der Unterschied 10 hoch +24. Das ist tatsächlich größer als das Epsilon, aber da das Problem der Numerik um die Anzahl der Stellen ist (nach der 16. Stelle - also 10^-16 - ist die Zahl nur noch mit Glück richtig), spielt der Vergleich von 10^24 und 10^-16 eigentlich überhaupt keine Rolle: Bei 10^24 ist die 16. Stelle 10^8. Ich habe keine Ahnung, was der Dozent da so erzählt, aber mit dem Datentyp der Fließkommazahlen scheint es nicht wirklich etwas zu tun zu haben. Vielleicht hat er sich was dabei gedacht, aber dann begreife ich es nicht, obwohl ich beruflich auch mit numerischen Problemen arbeite.
Kein Einsteiger versteht, wozu dieses Epsilon gut ist oder wie eine Fließkommazahl funktioniert. Nochmal: Das Niveau des Kurses liegt da, wo der Dozent erklärt, wie man eine Konsole unter Windows öffnet und hier wird Numerik mal eben in 2 Minuten irgendwie dahingeschludert präsentiert in der Erwartung, dass der Lernende Kenntnisse in der internen Fließkomma-Zahlendarstellung eines Prozessor besitzt und versteht, warum Computer nicht rechnen können, sondern nur so tun als ob. Das verstehen manche Fachinformatiker nichtmals, die können aber die Konsole unter Windows schon selbständig öffnen.
Für den Dozenten bräuchte man mindestens die doppelte Geschwindigkeit. Wertvolle Informationen wie „Wenn ich jetzt Python eingebe… iPython startet das iPython“ oder dass ich regelmäßig Zeuge von Vertippen und deren Korrekturen werde, geben mir nicht das Gefühl in diesem Kurs meine Zeit zu sparen. Im Gegenteil. Ich glaube, ein Pythonbuch diagonal zu lesen geht schneller. Die Sprechweise ist alles andere als begeisternd oder motivierend, sondern eher langweilig und ermüdend.
Gelegentlich habe ich das Gefühl, dass dem Dozenten spontan einfällt, was er jetzt erzählen wird. So, als hätte er es 10 Sekunden auch noch nicht gewusst, dass er diesen Aspekt auch beleuchten möchte. Das Ganze wirkt auf mich nicht stringent geplant. Der Dozent (bzw. Lekturio) will 12,99€ pro Monat von mir - mindestens ein Jahr lang, das sind 155,88€. Dafür erwarte ich eine entsprechende Darbietung. Mit >25 Jahren Programmiererfahrung will ich spüren, dass der Mann einen gut vorbereiteten Zettel neben dem Rechner liegen hat, den er für das Video vertont - und ich meine einen Zettel pro Lektion, nicht einen Zettel mit Kapitelüberschriften. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Dozent die Videos immer wenn mal Zeit war ohne große Planung, hintereinander weg aufgenommen hat.
Und ich glaube auch, dass man das an den Klick-Zahlen sieht: Die Einstiegslektionen sind noch gut besucht und dann nimmt man sich, was man gerade braucht und (er)spart sich den Rest.
Wertigkeit
Ich habe nur sehr wenig Zeit, aber ich bin sicher, ich hätte mir die Zeit nehmen können, um das Tutorial fortsetzen zu können.
Das Tutorial steht bei mir in Konkurrenz zu Fernseh-Gucken oder Haushaltsarbeiten. Ich bin weder begeistert vom TV-Programm, noch sonderlich begeistert von Putzen. Es ist vergleichsweise einfach mich zu anderen Dingen zu überreden und ich programmiere auch heute noch freiwillig. Der Dozent hat es nicht fertig gebracht, mich bei der Stange zu halten, bzw. mir die Zeit für ihn nehmen zu wollen. Hätte ich dafür 156 Euro bezahlt, hätte ich mich umso mehr geärgert.
Als Tauchlehrer kann ich mir einen solchen Vortrag nicht leisten. Für ein Tauchkurs treten wir für die Theorie „life“ auf, halten Schulungsräume bereit und für die praktische Ausbildung einen Pool und ein Fahrzeug um zu Seen zu fahren, sowie das ganze Tauchequipment und sind stundenlang mit den Schülern im und ums Wasser für die praktische Ausbildung. Wir haben die gleichen Voraussetzungen: Schüler, die sich für ein Thema interessieren und lernen wollen und wenig Zeit dafür haben, weil sie neben dem Job die Kurse belegen. Das muss alles sehr effizient sein. Und wir wollen, dass die Schüler am Ende sagen „Das hat sich gelohnt, ich will weitere Lektionen bei euch buchen und dafür Geld ausgeben.“
In beiden Fällen besteht ein Wissensgefälle, so dass dem Schüler oftmals nicht auffällt, wenn der Dozent Unsinn redet.
Im Gegensatz zum Hobby-Programmierer sind Fehler des Dozenten beim Tauchen potentiell lebensgefährlich für den Schüler. Ein solches Video wäre ein absolutes No-Go. Um die Probleme der Numerik bei Fließkommazahlen aufzuzeigen, wird in der Regel ein Beispiel genannt, bei dem 28 amerikanische Soldaten versehentlich von einer amerikanischen Rakete getötet wurden, weil man sich mit der Numerik verrechnet hat. Kann ja mal passieren. Hier in Deutschland hat man ein Kraftwerk auf Verschleiß gefahren, weil der Entwickler die Epsilontik nicht verstanden hat. Ein Kollege von mir hat den Fehler gefunden, bevor die Teile aufgaben: Nix passiert, aber man stelle sich mal so eine Dampfturbine vor wenn da meterlange Rotorblätter bei voller Umdrehungszahl brechen und den Rest der Turbine der Größe eines Einfamilienhauses zerlegen.
Epsilontik ist ein ernstes Thema in der Informatik und keine geschluderte Bemerkung in einem Anfängerkurs. Wenn das schon angesprochen wird, dann verankert man in einem Anfängerkurs den Hinweis, dass man sich damit beschäftigen muss, bevor man mit Fließkommazahlen irgendwas ernstgemeintes programmiert: Aus Sicherheitsgründen kein Tauchen tiefer als 18m mit dem Anfänger-Tauchschein - es reicht zu wissen, dass es gefährlich ist, die Details überlässt man jemandem, der sich damit auskennt.
Der Pythonkurs ist für Einsteiger überfordernd, teilweise unsinnig (warum die aufwendige Installation eines Services, um Befehle im Browserfenster einzugeben!?), es unglaublich viel Blabla dazwischen, es sind Fehler drin und didaktisch halte ich den Aufbau für fraglich. Wenn ich so einen Kurs buche - gegen Geld! - will ich da einen Experten sitzen haben, der eine Punktlandung liefert - insbesondere, wenn er das ganze nicht „Life“ macht, sondern ein Video beliebig oft aufzeichnen kann, bis es gut ist.
Ihr Pythonkurs kostet 156 Euro, um sich ein paar Videos anzugucken. Tut mir leid, aber wäre der Kurs auf der Beilagen-CD einer Programmierzeitschrift würde ich sagen, das passt. 156 Euro…?
Was bekomme ich für die 156 Euro? Wie anerkannt ist ein Lecturio-Zertifikat? Gibt's überhaupt eins?
Der erste international anerkannte Tauchschein kostet etwa 400 Euro. Stimmt die Relation? Stimmt die Qualität?
Ich fand die Lecturio-Seite zu Beginn sehr interessant, weil es eine große Auswahl an Themen gibt. Aber ich würde jetzt nicht das Risiko eingehen, ein teures Abo für ein Thema abzuschließen, wo ich selbst kompletter Einsteiger wäre und die Qualität der Informationen nicht beurteilen könnte. Das wäre mir zu riskant.
Fazit
Sorry, aber als Entwickler kann ich den Einstieg in das Tutorial nicht positiv bewerten, sondern muss es sagen, dass es deutlich überarbeitet werden sollte. Ich kann es so leider nicht empfehlen.
Lecturio selbst sollte den Übergang von einer Lektion in die Nächste vereinfachen und die Preisgestaltung überdenken. Je nach Qualität der Vorträge durchaus interessant. Jedoch insbesondere das Abo-Modell macht den Preis für das Python-Tutorial unverhältnismäßig.
Aus dem Anhang - die Frage war, was in Python korrekte Strings sind:
Code: Alles auswählen
Frage 4:
‚Don‘\t!’ und ‚Don’t!‘ sind angeblich richtige Antworten, laut Quiz-Frage 4.
>>> 'Don'\t!'
File "<stdin>", line 1
'Don'\t!'
^
SyntaxError: unexpected character after line continuation character
>>> 'Don't!'
File "<stdin>", line 1
'Don't!'
^
SyntaxError: invalid syntax
Python sieht das anders.